Arbeitsrecht

Beweiswert einer fehlerhaften Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Verstöße gegen die Regelungen zur Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in §§ 4 und 5 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie können geeignet sein, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern.

Was ist passiert?

Am 12.12.2022, schrieb die Klägerin dem Geschäftsführer der Beklagten um 11:17 Uhr per WhatsApp, dass sie „morgen definitiv raus“ sei, Kopf und Gliederschmerzen sowie „ganz schlimme“ Krämpfe habe. Der Geschäftsführer antwortete noch am gleichen Tag unter anderem:
„Dann plane ich dich jetzt aus bei der Weihnachtsfeier. Ich möchte dich die Woche nicht mehr sehen. Ich melde mich dann die Woche wie wir weitermachen ich brauche Zuverlässigkeit gerade im Moment und nach Weihnachten. Danke.“

Die Klägerin reichte bei der Beklagten anschließend drei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ein, die alle aufgrund eines Telefongesprächs erstellt wurden, und zwar für die Zeit vom 12.12. – 14.12., vom 19.12. – 21.12. und zuletzt durch eine Folgebescheinigung vom 22.12.2022 bis 13.01.2023. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 15.01.2023, gegen die Kündigung hat sich die Arbeitnehmerin nicht gewehrt.

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin Entgeltfortzahlung für die Zeit vom 19.12. – 31.12.2022. Die Beklagte hält den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung unter anderem deshalb für erschüttert, weil die Klägerin die Entgeltfortzahlung nur bis zum 31.12.2022 geltend mache, was nahelege, dass sie zum 01.01.2023 schon wieder einen neuen Job habe.

Das ArbG hat der Klage stattgegeben.

Wie hat das LAG entschieden?

Es hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zwar habe die Klägerin Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt. Deren Beweiswert sei jedoch erschüttert, und zwar unter anderem wegen Verstößen des ausstellenden Arztes gegen die Vorgaben in §§ 4 und 5 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AURL). Zwar handele es sich insoweit nicht um gesetzlich zwingende Vorgaben, die die Arbeitsvertragsparteien und Arbeitsgerichte binden. Diese Bestimmungen in den AURL enthielten aber eine Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungs- und Grundregeln zur nachvollziehbaren Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und bildeten insoweit den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ab. Im vorliegenden Fall sei der Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 19. bis 23.12.2022 schon deshalb erschüttert, weil die Bescheinigung nicht nach unmittelbar persönlicher Untersuchung der Klägerin und auch nicht mittelbar persönlich im Wege einer Videosprechstunde, sondern allein auf einen telefonischen Kontakt hin ausgestellt worden ist. Zudem habe die Klägerin nicht ansatzweise konkret vorgetragen, welches Beschwerdebild sie dem Arzt telefonisch geschildert habe. Der Beweiswert der Folgebescheinigung vom 22.12.2022 sei erschüttert, weil der Arzt entgegen § 5 Abs. 5 AURL eine voraussichtliche zukünftige Krankheitsdauer für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen bescheinigt habe, nämlich vom 22.12.2022 bis 13.01.2023. Die Klägerin habe ihrer sie nach Erschütterung des Beweiswerts der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen wieder treffenden Darlegungslast für ihre Arbeitsunfähigkeit nicht genügt. So habe sie lediglich pauschal vorgetragen, während des gesamten Zeitraums an einem Magen-Darm-Infekt gelitten zu haben. Welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln und/oder Medikamente ärztlich verordnet worden seien, habe sie nicht dargelegt.

Fazit

Die Entscheidung überrascht auf den ersten Blick etwas, denn welcher Arbeitnehmer oder welche Arbeitnehmerin kennt schon den Inhalt der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie? Zudem ereignete sich der Vorfall, als die Sonderregelungen im Zusammenhang mit der COVID-19 – Epidemie nach § 8 AURL nicht mehr galten und die Neuregelungen für eine telefonische Krankmeldung noch nicht in Kraft waren. Dennoch ist es wichtig zu wissen, dass sich Beschäftigte nicht vorbehaltlos auf eine ärztlich ausgestellte AU-Bescheinigung verlassen können. Fehler, die Ärzten bei der Ausstellung unterlaufen, können also dazu führen, dass der Beweiswert erschüttert wird und damit wieder die Beschäftigten die Beweislast dafür haben, dass eine unverschuldete Krankheit vorlag.

(LAG Niedersachsen, Urteil vom 18.04.2024 – 6 Sa 416/23)