Wahl der Schwerbehindertenvertretung: Aktives Wahlrecht von Werkstattbeschäftigten
Was ist passiert?
Die Beteiligten streiten noch über die Wirksamkeit der am 18.11.2022 durchgeführten Wahlen der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen sowie der stellvertretenden Mitglieder.
Die zu 1. und 2. beteiligten Antragsteller sind bei dem zu 6. beteiligten Arbeitgeber beschäftigte schwerbehinderte Menschen; die zu 3. beteiligte Antragstellerin – gleichfalls schwerbehinderter Mensch – ist mit Ablauf des 31.12.2022 aus dem Betrieb ausgeschieden. Der Arbeitgeber betreibt ambulante Dienste, teilstationäre Einrichtungen sowie Wohnstätten und erbringt Leistungen zur beruflichen Rehabilitation und Teilhabe am Arbeitsleben. Er beschäftigt ca. 850 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; ca. 200 bis 300 Menschen mit Behinderung erhalten nach §§ 57, 58 SGB IX Leistungen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich sowie im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten für behinderte Menschen iSv. §§ 219 ff. SGB IX. Von diesen sog. Werkstattbeschäftigten sind nach der schätzweisen Berechnung des Landesarbeitsgerichts ca. 150 als schwerbehinderte Menschen anerkannt. Ein besonderer Vertreter iSd. § 52 Satz 2 SGB IX ist nicht gewählt.
Mit Wahlausschreiben vom 06.10.2022 leitete der hierfür bestellte Wahlvorstand, dessen Vorsitzender der zu 2. beteiligte Antragsteller war, die Wahlen der Schwerbehindertenvertretung (Vertrauensperson und stellvertretender Mitglieder) ein. Die schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten waren nicht in der Wählerliste aufgeführt. Die hiergegen gerichteten schriftlichen Einsprüche der Antragsteller wies der Wahlvorstand am 12. Oktober 2022 zurück, wobei an der Entscheidung der zu 2. beteiligte Antragsteller nicht mitwirkte. Bei den am 18.11.2022 durchgeführten Wahlen wurde der zu 2. beteiligte Antragsteller – als einziger Kandidat – mit 42 Stimmen zur Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen gewählt, der Beteiligte zu 5. mit 26 Stimmen zum ersten, die zu 3. beteiligte Antragstellerin mit 22 Stimmen zum zweiten und der zu 1. beteiligte Antragsteller mit neun Stimmen zum dritten stellvertretenden Mitglied. Die Wahlergebnisse wurden am 22. November 2022 bekannt gemacht.
Mit ihrer am 01.12.2022 beim Arbeitsgericht eingegangenen Antragsschrift haben die Antragsteller – soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren noch von Interesse – die Wahlen angefochten. Sie halten diese für unwirksam, weil die (nicht in die Wählerliste aufgenommenen) schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten nach § 177 Abs. 2 SGB IX wahlberechtigt seien.
Die Vorinstanzen haben der Wahlanfechtung jeweils stattgegeben.
Wie hat das BAG entschieden?
Das BAG wies die Rechtsbeschwerde des Arbeitgebers zurück und bestätigte somit die Entscheidungen des Arbeits- und Landesarbeitsgerichts.
Neben der Prüfung der formellen Voraussetzungen der Wahlanfechtung, welche hier unproblematisch gegeben waren, wurden insbesondere die materiellen Voraussetzungen bejaht. Hierbei ging es insbesondere um die Auslegung des Wortlautes des § 177 Abs. 2 SGB IX, in dem es heißt: „Wahlberechtigt sind alle in dem Betrieb oder der Dienststelle beschäftigten schwerbehinderten Menschen.“
Für ein aktives Wahlrecht der Werkstattbeschäftigten spreche bereits der Wortlaut der Norm. Dieser geht von „Beschäftigten“ aus. Das trifft auch für Personen zu, die auf Grundlage eines sog. Werkstattvertrages tätig werden und fremdbestimmt in persönlicher Abhängigkeit beschäftigt sind. Damit schließt weder der Umstand, dass die Werkstätten für behinderte Menschen (nur) denjenigen Meschen (mit Behinderung) offenstehen, die wegen der Art und Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können, noch die Festlegung eines nicht als Arbeitsverhältnis zu qualifizierenden arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnisses eine Repräsentanz der Werkstattbeschäftigten durch die Schwerbehindertenvertretung aus.
Auch Sinn und Zweck der Regelungen zur Schwerbehindertenvertretung sprechen für die Wahlberechtigung der schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten. Der Gesetzgeber beschränkt die Schwerbehindertenvertretung nicht auf die Interessenwahrung der schwerbehinderten Arbeitnehmer, sondern erstreckt sie auf die Vertretung der Interessen aller schwerbehinderten Menschen in dem Betrieb. Zu diesen gehören die Werkstattbeschäftigten. Aus Gründen demokratischer Legitimation ist es daher angezeigt, ihnen das aktive Wahlrecht zu dem Organ zuzuerkennen, das ihre besonderen Interessen als Schwerbehinderte wahrzunehmen hat.
Nach dem BAG ist eine Vertretung der Werkstattbeschäftigten durch die Vertrauensperson auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass für diese Beschäftigtengruppe sog. Werkstatträte nach § 222 Abs. 1 SGB IX gebildet werden. Diese besondere Beteiligungsform für diejenigen in den Werkstätten beschäftigten behinderten Menschen, die nach § 221 Abs. 1 SGB IX in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis zu den Werkstätten stehen und daher nicht Arbeitnehmer oder Auszubildende sind, ist dem Umstand geschuldet, dass für diese Personengruppe die Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes bzw. der entsprechenden Personalvertretungsgesetze (bei öffentlich-rechtlicher Trägerschaft der Werkstatt für behinderte Menschen) nicht gelten. Infolgedessen werdendiese behinderten Menschen in den nach diesen Gesetzen gewählten Gremien auch nicht repräsentiert. Bei den Werkstatträten handelt es sich aber nicht um eine gegenüber der Schwerbehindertenvertretung speziellere und ausschließliche Interessenvertretung. Für eine solche Annahme bieten weder die Gesetzessystematik noch die gesetzliche Ausgestaltung der Vertretungen einen Anhalt.
Soweit der Arbeitgeber einwendet, schwerbehinderte Werkstattbeschäftigte wählten nach § 222 SGB IX als ihre eigene Interessenvertretung den Werkstattrat, der für alle Fragen der Werkstattbeschäftigung – also auch für Beratung und Beistand der schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten – zuständig sei, ist dem im Übrigen entgegenzuhalten, dass weder alle Werkstattbeschäftigten notwendigerweise schwerbehindert sind, noch die in § 222 Abs. 3 SGB IX geregelte Wahlberechtigung sowie der in § 222 Abs. 1 SGB IX bestimmte Kreis der zu vertretenden Beschäftigten alle Werkstattbeschäftigten erfassen. Denn jedenfalls diejenigen Werkstattbeschäftigten, die Arbeitnehmer sind, sind nicht wahlberechtigt zum Werkstattrat, was ausdrücklich auch aus § 10 der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung – WMVO – folgt. Überdies wären die schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten ohne jegliche Interessenvertretung insb. in den ihre Schwerbehinderung betreffenden Angelegenheiten, wenn kein Werkstattrat gebildet ist.
Demnach haben auch schwerbehinderte Werkstattbeschäftigte ein aktives Wahlrecht zur Wahl der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen.
Fazit
Die Entscheidung ist zu begrüßen und die Argumentation des BAGs ist überzeugend. Es ist schlicht kein Grund ersichtlich, weswegen arbeitnehmerähnliche schwerbehinderte Menschen nicht durch die Instanz der Vertretung von schwerbehinderten Menschen repräsentiert werden sollten. Die Entscheidung des BAG ist sehr lesenswert und geht sehr ausführlich auf alle Argumente ein, die hier nicht vollständig wiedergegeben werden konnten.
(BAG, Beschluss vom 23.10.2024 – 7 ABR 36/23)